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Sterbebegleitung für Tiere__„Am Ende ist es oft ein Ringen“

Dr. Enrica Steden begleitet sterbenskranke Tiere. Foto: privat

Dr. Enrica Steden hat ihre Arbeit dem Tod gewidmet. Die Berliner Tierärztin kommt, wenn es keine Heilung mehr gibt. Mit Palliativmedizin und Betreuung Zuhause in gewohnter Umgebung möchte sie schwerkranken Heimtieren einen guten Lebensabschluss verschaffen. Dabei schaut sie täglich tief in die Seelen der Tiere – und auch der Menschen.

Am schlimmsten ist es Heiligabend. In Berlin leben sehr viele Menschen allein, viele mit einem Hund oder einer Katze. Am 24. Dezember sei für diese Menschen das Alleinsein besonders schwierig zu ertragen, sagt Enrica Steden. Sie leiden dann unter ihrer Einsamkeit. Oft ist das Tier der einzige Trost.

Dieses Leid übertrage sich vom Menschen auf das Tier. Sind Hund oder Katze dann schon sterbenskrank, verschlechtere sich häufig die Lage des Tieres nochmal. So mancher Halter ertrage dann das Leid des Tieres nicht mehr und rufe bei Steden an, um dem geliebten Wesen ein sanftes Ende bereiten zu können.

Kulturelle Veränderungen

In der Humanmedizin sind palliative Behandlungen und Sterbebegleitung längst etabliert. Enrica Steden überträgt die Konzepte in den Heimtierbereich. Dabei knüpft sie an kulturelle Veränderungen an: „Bezüglich unserer Tiere hat sich das Bewusstsein verstärkt, dass Tiere eine Seele haben und nicht weit weg von uns sind“, sagt sie. „Heimtiere gehören zur Familie.“

2020 gründete sie die mobile Praxis „Palliavet“ mit dem Ziel, Patienten und ihren Haltern beizustehen, wenn eine unheilbare Krankheit beim Tier diagnostiziert wurde. Oder auch, wenn das Tier aufgrund seines hohen Alters leidet, etwa wie die Dogge, die in einer Wohnung im zweiten Stock lebte, nicht mehr laufen konnte und die Treppe nicht hinab kam.

Wer etwas über das Verhältnis von Mensch und Tier lernen will, sollte sich Enrica Stedens Geschichten anhören. Es sind vor allem Hunde und Katzen, die sie betreut, aber auch zu Kleinsäugern wird sie mitunter gerufen. Ob ein Halter sich bei Steden meldet, hängt wesentlich davon ab, wie tief die Verbindung zum kranken Tier reicht. „Eine Frau hatte eine enge Beziehung zu ihrem Hamster“, sagt sie. Ein anderer Halter hatte seine Wohnung komplett kaninchengerecht eingerichtet.

Fünf bis acht Besuche täglich

Jeden Tag werden in Deutschland todkranke Tiere eingeschläfert. In den allermeisten Fällen passiert das in den Arztpraxen. Manche Halter möchten das Tier aber zu Hause haben, wenn es stirbt. Steden arbeitet mit anderen Praxen zusammen. Gibt es dort einen hoffnungslosen Fall, geben die behandelnden Ärzte Stedens Visitenkarte weiter. Fünf bis acht Besuche macht sie mittlerweile täglich, fährt dafür auch mal weitere Strecken aus Berlin heraus.

Etwa 30 Prozent seien normale Patienten, sagt sie, also solche, mit denen sie therapeutisch an der Heilung arbeitet. Der Großteil aber sieht dem Ende entgegen. Es ist nun aber nicht so, dass Steden nur einmal hinfährt und Narkose sowie Barbiturat verabreicht, um das Tier einzuschläfern. Gemäß der Ziele der Palliativmedizin, beim Patienten Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern, kommt Steden durchaus häufiger vorbei, manchmal bis zu zehn Mal.

In dieser Zeit ist sie nicht nur für das Tier da, sondern übernimmt gewissermaßen auch die Rolle einer Seelsorgerin für den Halter. Die Menschen seien häufig verzweifelt angesichts des drohenden Verlustes ihres geliebten Tieres. „Da fallen alle Masken“, sagt die Tierärztin. Der Tod wird plötzlich zum zentralen Thema. Über allem steht dann die Frage nach dem Wann. Was kann man dem Tier noch zumuten? Wie lange hält der Halter das noch aus? Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen?

„Plötzlich liegt deren ganzes Leben vor mir“

„Am Ende ist es es oft ein Ringen“, sagt Steden. Während sie Tier und Halter in ihrer letzten gemeinsamen Zeit begleitet, lernt sie die Familie kennen. „Plötzlich liegt deren ganzes Leben vor mir“, sagt sie. So wie die gemeinsame Zeit von Tier und Mensch war, sei auch das Ende. „Manche lauschen bis zum letzten Atemzug mit dem Ohr ganz dicht am Tier.“ So als wollten sie nicht einen einzigen Augenblick der Zeit verpassen, die noch bleibt. Andere wiederum gingen weg, wenn Steden das kranke Tier einschläfert. Vor allem Männer ertrügen das nicht gut. Frauen blieben häufiger dabei, manchmal mit Freundinnen, die dann die Hand halten.

Die Tiere selbst schienen auf ihre eigene Art und Weise um ihre Situation zu wissen, so Steden. Eine Katze etwa versteckte sich stets, wenn die Ärztin kam. Beim letzten Besuch aber war sie plötzlich ganz zutraulich. Ein Kater wehrte sich zwei Jahre lang gegen eine unheilbare Krankheit, bis der Sohn der Familie von einer Weltreise zurückkam. Danach ging es rapide bergab, ganz so, als sei er nun bereit zu gehen. „Manche Hunde schauen mich an, als ob sie wüssten, was los ist. Als wollten sie mir sagen: Es ist okay, ich weiß Bescheid.“

Der Halter gerät nach dem Tod des Tieres nicht selten in eine persönliche Krise. Schuldgefühle kommen hoch, weil er die Entscheidung zum Einschläfern gefällt hat. Die folgenden Einzelgespräche gehören auch zu Enrica Stedens Job, aber in besonders harten Krisen vermittelt sie die Menschen an einen Therapeuten.

Für Steden hängen solche menschlichen Krisen auch damit zusammen, dass der Tod in unserer Gesellschaft meistens verdrängt wird. „Ich möchte das Thema gern ins Leben holen“, sagt sie. Das könnte dem Unvermeidlichen vielleicht den Schrecken nehmen.

Dominic Heitz