Künstliche Intelligenz und Marketing__Die nächste Zeitenwende

Peter Gentsch ist einer der profiliertesten Vordenker im Bereich Künstliche Intelligenz und Digitale Transformation. Foto: privat

Das Internet ist längst zu einem riesigen Marktplatz geworden. E-Commerce ist im Tierbedarf seit Jahren ein Wachstumsfeld und auch stationäre Händler buhlen im Netz um Kunden. Mit der Künstlichen Intelligenz und ihren Sprachmodellen kommen nun neue Spieler aufs Feld, die sich anschicken, die Marktmacht der Suchmaschinen zu brechen und vieles auf den Kopf zu stellen.

Als Anfang des Jahrtausends Suchmaschinen ihren Erfolgskurs einschlugen, ahnte niemand, wie sehr diese Dienste die Geschäftswelt verändern würden. Plötzlich wollten alle dabei sein und in den Ergebnislisten ganz oben stehen, um von potenziellen Kunden gefunden zu werden. „Rule the first page“ war die Maxime, beherrsche die erste Seite. Folgerichtig entwickelte sich eine digitale Publikationskultur, die von den Anforderungen der Algorithmen von Google und Co. getrieben wurde. Suchmaschinenoptimierung war die Magie und die Zauberlehrlinge in den Marketingabteilungen schwangen ihre digitalen Stäbe im globalen Wettkampf um Aufmerksamkeit.

Seit dem Aufkommen von Künstlicher Intelligenz (KI) im Alltagsgebrauch vieler Menschen bröckelt die Informationsmacht der großen Suchmaschinenbetreiber. Rund 50 Prozent der KI-Nutzer in Deutschland fragten die Sprachmodelle bereits vor einem Online-Einkauf und ließen so beispielsweise Preise vergleichen oder Rezensionen lesen, teilt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Newsletter mit. Den Weg über eine Google-Suche etwa zu einem Vergleichsportal sparen sie sich somit.

Von der Frage bis zum Kauf

Das betrifft natürlich auch die Heimtierbranche: Internetnutzer fragen nun häufiger bei ChatGPT oder anderen nach, wenn sie etwa einen neuen Kratzbaum für ihre Katze kaufen wollen. Professor Peter Gentsch sagt, dass diese Sprachmodelle zukünftig als Agenten fungieren könnten, die von der Formulierung einer Frage den Nutzer bis zum Kauf eines passenden Produktes begleiten. Gentsch forscht, lehrt und berät seit Jahrzehnten zum Thema Künstliche Intelligenz. Wie viele Google-Suchen schon von Anfragen bei einer KI abgelöst wurden, darüber gebe es noch keine validen Zahlen, sagt er. Aber die Analysten von Gartner und anderen Marktforschungsunternehmen seien sich einig, dass der Datenverkehr sich massiv verschieben werde.

Für Gentsch steht die Welt vor nicht weniger als einem Paradigmenwechsel. Das gewohnte Suchmaschinen-Prinzip von der Eingabe eines Stichwortes zur Ausgabe von Seitenverzeichnissen mit Informationsangeboten, die zur Eingabe passen, wird abgelöst von einem Dialog, in dem die KI den Nutzer im Gespräch begleitet und zum Kunden macht. „Die alte Interpretation von Märkten als Gesprächen wird wahr“, sagt Gentsch.

Kommunikationstheoretisch könnte man diese Gespräche als „gated dialogues“ bezeichnen, weil der Nutzer der KI von der ersten Frage bis zum Kauf eines Produktes aus der Interaktion mit dem Sprachmodell gar nicht mehr herauskommt, etwa um andere Informationsangebote zu prüfen. Wohin dieses Gespräch den Nutzer führt, also wessen Kunde er schließlich wird, entscheidet allein das Sprachmodell. Die Marketingabteilungen der Unternehmen kennen zwar den Google-Algorithmus nicht genau, wissen aber wenigstens, wie er in Grundzügen funktioniert und wie man die eigenen Inhalte über Suchmaschinenoptimierung gestalten muss, um weit nach oben auf die Ergebnisliste zu kommen. KI ist diesbezüglich aber noch Neuland.

Die Hierarchie der Aufmerksamkeit

Die klassischen Suchmaschinen hatten Torwächter-Funktionen. Über die Platzierung auf ihren seitenlangen Ergebnislisten entschieden sie darüber, wer wahrgenommen wird und wer nicht. SEO und Sponsoring waren die Mittel der Wahl, um in der Hierarchie der Aufmerksamkeit nach oben zu kommen. Diese Torwächter-Funktion wird durch die KI weiter verstärkt, denn sie schränkt die Anzahl der Ergebnisse erheblich ein. Mussten Nutzer bei Google noch Listen durchschauen und auf einzelne Seiten wechseln, serviert das Sprachmodell die Antworten mundgerecht. Manchmal vielleicht sogar nur eine einzige.

Für den Nutzer bedeutet dies einen Zugewinn an Bequemlichkeit auf Kosten der eigenen Entscheidungsfreiheit. Natürlich gewichten die Suchmaschinen auch ihre Ergebnisse, und zwar vor allem hinsichtlich der geschäftlichen Interessen der Unternehmen hinter den Diensten. Den ersten Platz in einer Google-Ergebnisliste zur Frage nach einem neuen Kratzbaum hat sicher ein Anbieter gekauft. Allerdings wissen das wohl auch die allermeisten Nutzer.

Die Künstliche Intelligenz steht diesbezüglich noch nicht in Verdacht. Gemini, Perplexity und andere genössen einen Vertrauensvorsprung gegenüber den Suchmaschinen, sagt Peter Gentsch, weil die neuen Modelle noch nicht so stark kommerzialisiert seien. Das wird vermutlich nicht mehr lange so bleiben. „Die KI-Anbieter werden ihre Dienste monetarisieren wollen“, sagt der Professor.

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst

Stellt sich also nun die Frage, was die Unternehmen angesichts dieses großen Umbruchs tun können. Zunächst mal sollten sie die neue Technologie nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen. „Wie immer, wenn etwas neu ist, haben sie die Chance, als Erster möglichst viel vom Kuchen abzukriegen“, sagt Peter Gentsch. Als Ansatz schlägt er vor, dass Unternehmen schauen, was die Sprachmodelle denn so auswerfen, wenn sie beispielsweise mit Fragen zu Katzenkratzbäumen gefüttert werden.

Taucht in der Antwort ein Markt-Konkurrent auf, kann ein Kratzbaum-Anbieter recherchieren, was das andere Unternehmen tut, um ins sogenannte „relevant set“ zu kommen, also in die Menge an Informationen, die von einem Sprachmodell genutzt wird, um Entscheidungen zu treffen und Aufgaben zu lösen. Grundsätzlich gelte, so Gentsch: je präziser und fachlicher der Content, umso besser. Wichtig für die Sprachmodelle seien etwa auch Kundenzitate und -bewertungen.

Bei allen Anstrengungen müssen Unternehmen aber auch wissen, dass Relevanz für die KI nicht von heute auf morgen kommt. Gentsch warnt daher vor unseriösen Anbietern, die vorgeben zu wissen, wie man schnell in die Antworten der KI reinkommt. „Es gibt keine Abkürzungen“, sagt der Professor. Und er ist zurückhaltend bei der Prognose, wie schnell die technische Disruption den Markt umkrempeln wird. „Da bin ich immer vorsichtig, weil sich das Kundenverhalten dann doch nicht so schnell verändert. Es gibt gewisse Trägheiten.“

Die Unternehmen der Heimtierbranche sollten das aber nicht als Grund für einen Aufschub betrachten. Die Technologie wird bleiben, die Veränderungen werden kommen. Darauf stellt sich jeder Verantwortliche besser gestern als morgen ein.

Dominic Heitz