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Forschung__„Ratten verlieren auch mal absichtlich“

Professor Michael Brecht

Michael Brecht lehrt und forscht als Professor für Tierphysiologie, systemische Neurobiologie und Neural Computation an der Humboldt-Universität in Berlin. Im zza- Interview spricht er über den Spieltrieb von Ratten und warum das Spielen so wichtig ist.

zza: Herr Professor Brecht, sie erforschen neurowissenschaftlich den Spieltrieb am Beispiel von Ratten. Verstecken, fangen oder balgen – was spielen die Nager denn gern?
Michael Brecht: Ratten sind sehr verspielte Tiere. Da gibt es ja durchaus Unterschiede bei den Nagern. Mäuse sind beispielsweise viel weniger verspielt. Generell sind kleinere Tiere weniger verspielt, weil sie ein bisschen mehr Angst haben. Ratten haben allerdings einige Spielformen, die unseren sehr ähnlich sind. Sie machen beispielsweise Ringkämpfe, was ganz ähnlich ist wie bei Kindern. Ratten sind wie der Mensch auch sehr kitzlig. Es gibt aber Formen menschlichen Spiels, die ganz anders sind. Wir haben ja auch Obsessionen mit Objekten, mit denen wir ganz kompliziert spielen. Das ist im Vergleich zu den Ratten schon anders. Kompliziert, aber auch bei Mensch und Ratte ähnlich ist das Versteckspiel. Wir denken, dass das ein sehr altes Spiel ist, einhundert Millionen Jahre alt oder so.

zza: Offenbart sich beim Verstecken ein archaischer Fluchttrieb?
Brecht: Wenn wir mit Ratten verstecken spielen, können die das wirklich toll. Die brauchen ein, zwei Wochen Training, dann machen sie sogar viele Sachen beim Versteckspiel, die wir ihnen nie beigebracht haben. Auch komplizierte Sachen. Sie suchen sich vernünftige Verstecke. Sie merken sich, wo wir uns versteckt haben. Und sie sind leise, wenn sie sich verstecken. Das haben wir ihnen aber alles nicht beigebracht. Deswegen denken wir, dass sie eine Art Versteckspielroutine in sich haben. Das Versteckspiel selber – und das ist mit vielen Spielverhaltensweisen so – nimmt wahrscheinlich Verhaltensweisen aus anderen Kontexten auf, wie etwa das Fliehen und Verstecken als Schutzmechanismen. Auf diese Mechanismen greift dann das Spielen zu. Spielen ist oft ein leicht verändertes Verhalten aus einem anderen Zusammenhang. Die Ringkämpfe sind leicht verändertes Kampfverhalten.

zza: Warum gerade Ratten? Spielen andere Arten weniger?
Brecht: Normalerweise sagt man ja, dass das Gehirn das Verhalten steuert. Beim Spiel ist es so, dass Mensch und Tier das Gehirn trainieren. Man sieht es auch mehr bei Tieren, die stark auf das Lernen angewiesen sind. Tiere, die länger leben, zeigen oft auch mehr Spielverhalten. Genau wie soziale Tiere, die mehr spielen als weniger soziale Tiere. Es gibt auch eine Korrelation mit der Größe des Gehirns. Tiere mit großen Gehirnen sind in der Regel verspielter. Das gilt aber nur grob.

zza: Was interessiert Sie am Spieltrieb?
Brecht: Ich glaube, dass wir ganz schön große spielerische Kapazitäten haben, und ich denke, dass die eigentlich nicht genug geschätzt werden. Spielen ist ein bisschen ein Stiefkind wissenschaftlicher Untersuchungen, wird aufgrund von Vorurteilen nicht so viel angeguckt. Das ist oft eine große Dummheit. Viele Menschen denken, dass Spielen etwas Einfaches und Kindisches ist. Das ist aber überhaupt nicht das, was wir sehen. Wenn wir mit Ratten verstecken spielen, machen sie die kompliziertesten Sachen, die ich je eine Ratte habe machen sehen. Manchmal spielt die Ratte dann eine Rolle und tut so, als ob sie Angst hätte. Das wird bei der Analyse des Verhaltens sehr klar. Tatsächlich sehen wir beim Spielen die kompliziertesten Sachen in den Tieren. Auch glaube ich, dass Wissenschaft manchmal die positiven Dinge und Emotionen unterschätzt. Die meisten Hirnforscher arbeiten über Schmerz, Depression oder Autismus, nicht über nette Sachen wie Kitzligkeit und Spielen. Ich verstehe das, weil wir ja Sachen wie Schmerz in Ordnung bringen wollen. Aber es ist ein Fehler, dass wir das so ausschließlich machen.

zza: Spielen Tiere und Menschen gleich? Gibt es etwas, was in beider Spiel vorhanden ist, etwa als Struktur?
Brecht: Eine schwierige Frage, wie man das Spielen über die Arten vergleicht. Eine einzige einfache Antwort gibt es da nicht. Es gibt zum einen unglaubliche Ähnlichkeiten. Ein Beispiel sind die kleinen Ringkämpfe, die sich in einer Ratte sehr ähnlich entwickeln, wie in einem Menschen. Das gleiche mit Kitzligkeit, ein Verhalten, das Menschen wie Tiere zum Spielen bringt. Gleichzeitig glaube ich, dass der Mensch das verspielteste Tier ist, was es gibt. Menschen haben unglaublich viele und komplizierte Spiele. Einzelne Menschen unterscheiden sich ganz schön stark in dem, was und wie sie spielen. Meine Frau will mit uns nicht so gern Brettspiele machen, damit kann man sie jagen. Sie spielt dauernd mit sich selbst Online-Schach. Bei mir ist es genau umgekehrt. Es gibt auch bei Tieren und Menschen verblüffende Ähnlichkeiten, aber wir sehen auch bei manchem Spielverhalten des Menschen kein Gegenstück bei den Tieren.

zza: Welche Funktion erfüllt das Spiel für die Tiere?
Brecht: Die Funktion zu benennen, ist schwierig. Sie ist uns nicht vollständig klar. Was es wahrscheinlich nicht ist und wonach man am meisten gesucht hat, ist die Übung. Es wurde häufig vermutet, dass die Tiere etwas spielen und dann können sie das hinterher besser. Für diese Übungshypothese gibt es keine starke Unterstützung und sie ist die am häufigsten überprüfte Hypothese. Es gibt aber gute Hinweise darauf, dass man durch das Spiel lernt, mit gewissen Schwierigkeiten besser umzugehen. Ich glaube beispielsweise, dass es beim Spielen mehr ums Verlieren geht, als um das Gewinnen. Hamster können beispielsweise sehr viel besser damit umgehen, von einem Artgenossen verprügelt zu werden, wenn sie als junges Tier viel gespielt haben. Ein Hamster, der nicht gespielt hat, ist nicht so stressbeständig. Unsere Hypothese zum Spielen ist auch, dass man lernt, sich den anderen vorzustellen. Tiere und Menschen verlieren beim Spiel auch absichtlich. Auch die stärkste Ratte gewinnt nicht alle Ringkämpfe, sondern verliert auch mal absichtlich. Ihr Gewinn ist dann, dass sie lernt, wie sich das Verlieren anfühlt.

zza: Was können Tierhalter aus Ihren Studien für den Umgang mit ihren Tieren lernen?
Brecht: Menschen und Tiere haben große spielerische Kapazitäten und die sollte man unbedingt fördern. Das ist immer gut. Bei Tieren unterscheidet man soziales Spielen, Spielzeug und Fortbewegungsspiele. Das alles wird das Wohlergehen der Tiere verbessern.

Dominic Heitz